Die Turbulenzen an den Aktienmärkten seit Beginn des Ukrainekrieges haben auch die Rangliste der 100 wertvollsten börsennotierten Unternehmen durcheinandergewirbelt. Während die Aktienkurse der großen Technologiekonzerne im ersten Halbjahr eingebrochen sind, konnten Öl- und Gasunternehmen dank der stark gestiegenen Energiepreise ihren Börsenwert deutlich steigern. Zwar dominieren noch immer die amerikanischen Technologiekonzerne die Weltbörsen – neun der zehn wertvollsten Unternehmen haben ihren Hauptsitz in den Vereinigten Staaten –, an der Spitze hat Saudi Aramco den amerikanischen Smartphonehersteller Apple von Platz eins verdrängt. Der saudische Ölkonzern – der erst im Dezember 2019 an die Börse gegangen war – ist mit einem Börsenwert von 2,3 Billionen Dollar derzeit das wertvollste Unternehmen der Welt. Der langjährige Spitzenreiter Apple kommt mit einem Börsenwert von 2,2 Billionen Dollar nur noch auf Rang zwei.
Deutsche und europäische Unternehmen haben in den vergangenen Jahren an den Weltbörsen an Gewicht verloren. Laut einer Auszählung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY kamen vor der Finanzkrise – Ende 2007 – noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa, inzwischen nur noch 16. Als wertvollstes europäischen Unternehmen rangiert der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé mit einem Börsenwert von rund 320 Milliarden Dollar auf Rang 20. Erstmals seit Jahrzehnten findet sich in diesem Jahr kein einziges deutsches Unternehmen mehr in der Top-100-Rangliste.
Vor 20 Jahren sah die Rangliste der wertvollsten Börsenunternehmen noch deutlich anders aus. Damals stand der amerikanische Mischkonzern General Electric – kurz GE – an der Spitze. Inzwischen musste der amerikanische Traditionskonzern die Rangliste der 100 Größten sogar ganz verlassen. Auf Platz zwei rangierte damals der amerikanische Softwarekonzern Microsoft als einer der ersten Vorboten der großen Tech-Konzerne. Unternehmen wie Google und Amazon waren damals allerdings noch fast junge Start-ups, Facebook war noch überhaupt nicht gegründet.
Nachdem der Gasehersteller Linde seinen Hauptsitz nach Irland verlegt hat, ist wieder das Softwareunternehmen SAP der wertvollste deutsche Konzern. Doch der Aktienkurs des Walldorfer Unternehmens hat im ersten Halbjahr stark gelitten, sodass es nicht mehr für einen Platz unter den ersten 100 reicht. SAP kommt mit einem Börsenwert von rund 111 Milliarden Euro nur noch auf Rang 110.
Im Abstieg von SAP zeigt sich eine Schwäche der sonst so starken deutschen Wirtschaft: die Unternehmen finden keine Antwort auf den Aufstieg der Plattformökonomie. Während SAP nach wie vor die ganze Bandbreite von Software zur Unternehmenssteuerung anbietet – von Beschaffung über Finanzen, Personal bis zum Vertrieb –, eilen amerikanische Spezialisten mit schlanken Mietmodellen für die Cloud dem Konzern davon. Salesforce etwa, auf Vertriebssoftware spezialisiert, wird heute an der Börse um die Hälfte höher bewertet als SAP. Intuit, eine auf Finanzen und Steuer spezialisierte Softwareschmiede, erwirtschaftet weniger als die Hälfte der SAP-Umsätze, die Marktkapitalisierung ist dennoch größer. Selbst Service Now, das neue Unternehmen des ehemaligen SAP-Vorstandssprechers Bill McDermott, kommt mit gerade mal einem Viertel der Umsätze bereits nahe an die Marktkapitalisierung von SAP heran.
Den Aufsteigern ist eines gemein: sie machen – ähnlich wie Tesla – in einem scheinbar schon verteilten Markt alles neu. SAP hat zwar als weltgrößter Anbieter von Software zur Unternehmenssteuerung eine riesige Kundenzahl, die wird dem Konzern allerdings zur Last. Viele Kunden wollen nämlich nicht in die Cloud, deshalb pflegt SAP die alten Programme weiter, in der Hoffnung, die Kunden zu halten und mit ihnen später Synergien zu heben. Währenddessen zieht die junge Konkurrenz mit Spezialangeboten in der Cloud davon. Alte Zöpfe fallen in Amerika schneller.
SAP hat Mühe, Anschluss zu halten, die Marktbewertung liegt um die Hälfte unter den Höchstständen. Die drei dominierenden Cloudanbieter mit ihren riesigen Rechenzentren – Amazon, Microsoft, Google – bestimmen auch im Softwaregeschäft mittlerweile den Takt. An der Börse spielen sie in einer anderen Liga. Die Cloud und ihre Infrastruktur, das neue Gerüst der Weltwirtschaft, ist amerikanisch und chinesisch. Die Europäer, die Deutschen und nicht zuletzt SAP müssen gewaltig aufholen.
Im deutschen Leitindex dominieren auch nach 20 Jahren die alten Branchen: Autos, Chemie, Finanzen. Der Wunderknabe Wirecard hat sich als Betrugsfall entpuppt, das einzige neue Geschäftsmodell, wenn auch kein Hightech, bietet der Kochboxenverschicker Hello Fresh.
Deutschen Unternehmen fällt es offenbar schwer, mit ihren Antworten auf die Plattformwirtschaft die Anleger zu überzeugen. Dazu dürfte die schwindende Akzeptanz der Globalisierung dem Dax stärker zusetzen als anderen Indices. Schließlich profitiert Deutschland wie kaum ein anderes Land von der Verflechtung internationaler Wertschöpfungsketten. Michael Strobaek, Chefanleger der Credit Suisse, sagte kürzlich der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Deutschland und seine Unternehmen befänden sich deshalb in einer prekären Lage. Deutschland sei zum einen sehr stark abhängig von russischem Gas. Zum anderen wegen der Exportorientierung unmittelbar betroffen von Lieferengpässen und der Deglobalisierung.