Der Krieg hat ukrainische Städte verwüstet, Landschaften verödet, Schäden in dreistelliger Milliarden-Euro-Höhe angerichtet. Tausende Menschen sind getötet, Millionen vertrieben, die Stromversorgung wackelt, die Wirtschaftsleistung ist um ein Drittel geschrumpft. Keiner weiß, was noch kommt. Doch Sergiy Tsivkach sagt an diesem Februarmorgen, gekleidet in Business-Casual und nicht im ortsüblichen Olivgrün, mit ruhiger Stimme in einer Onlinerunde deutscher Unternehmer: „Ich fordere sie auf, jetzt über Investitionen in der Ukraine nachzudenken.“

Andreas Mihm

Wirtschaftskorrespondent für Österreich, Ostmittel-, Südosteuropa und die Türkei mit Sitz in Wien.

Ist es Übermut, vielleicht sogar Chuzpe? Als Direktor von Ukraine-Invest muss Tsivkach Stimmung machen für Investitionen im durch Russlands Überfall geschundenen Land. Der Präsident wirbt um mehr Waffen, der Ministerpräsident um mehr Geld für das Staatsbudget und er um mehr Ansiedlungen.

Dabei mangelte es dem Land schon vor dem Krieg an vielem, was Investoren sich wüschen: sicherer Rechtsrahmen ohne Schmiergelder, verlässlicher Zoll, nachvollziehbare Steuerbescheide. Man stehe zur Ukraine, sagt einer, aber es mache die Lage „nicht einfacher, wenn die gleichen Regeln in unterschiedlichen Regionen verschieden ausgelegt werden“.

„Arbeiten oft im Bunker“

Einen anderen Ausschnitt der Kriegswirtschaft beschreibt Oliver Gierlichs, Manager bei Bayer Ukraine. Seine Leute arbeiteten unter „schwierigsten Stressbedingungen, oft im Bunker“. Glücklicherweise werde das Kesselhaus für die Saatgutproduktion mit Biowärme aus Maiskolben betrieben. So richteten die Stromausfälle nach den russischen Raketenschlägen gegen die Energieinfrastruktur zumindest dort wenig Schaden an.

Linde-Manager Dmitry Bebeshko hat große Dieselgeneratoren angeschafft. Doch in Kiew muss teils in der Nacht produziert werden, wenn die Stromversorgung relativ stabil ist. Geld zu verdienen fällt da schwer: Bebeshko sagt, es gehe nicht um die Profitabilität des Unternehmens, „sondern vielmehr um dessen Unwirtschaftlichkeit“.

Wie Geld verdienen in einem Land, dessen Wirtschaftsleistung 2022 um 30 Prozent schrumpfte, von 200 auf 140 Milliarden Dollar? Nun soll sie, wenn es gut geht und der Krieg bald endet, um 2 Prozent wachsen. Sogar das erscheint der mit 4,7 Milliarden Dollar in der ukrainischen Wirtschaft engagierten Osteuropabank EBRD noch zu viel. Sie hat ihre Wachstumsprognose für das Bruttoinlandprodukt (BIP) von 8 auf 1 Prozent herabgesetzt. Die reale Produktion dürfte sich bei 70 Prozent des Niveaus von 2021 einpendeln, „wenn die Feindseligkeiten in der Ukraine 2023 auf das derzeitige Gebiet beschränkt bleiben, in dem weniger als 20 Prozent des Vorkriegs-BIP erwirtschaftet werden“. Wenn.

In der Landwirtschaft sanken die Exporte 2022 um knapp ein Viertel auf 23 Millionen Tonnen. Wie lange die ukrainischen Schwarzmeerhäfen offen bleiben, weiß keiner. Das Getreideabkommen mit Russland läuft bald aus.

Die Zahlen sähen auf den ersten Blick schrecklich aus, sagt Robert Kirchner vom German Economic Team, das Kiew berät. Doch zeige sich eine beeindruckende Widerstandsfähigkeit: „Trotz Krieg, Besetzung, Flucht und täglichem Raketenterror arbeitet die Wirtschaft größtenteils weiter, mit verminderter Kapazität, und hat sich den massiv veränderten Rahmenbedingungen schnell und flexibel angepasst.“ So, wie die Reparaturtrupps den Strom meist nach kurzer Zeit wieder fließen lassen, nachdem Luftangriffe vorüber und Schäden lokalisiert sind. Immerhin gewähren Europäer etwas mehr Kapazität im Stromhandel.

Probleme mit dem Internet

Die European Business Association in der Ukraine befragt ihre mittelständischen Mitglieder regelmäßig zur Lage. Direktorin Anna Derevyanko sagt, fast alle seien wieder im Geschäft. 60 Prozent der Betriebe verfügten über Finanzmittel, die sie ein Jahr oder länger trügen. Betriebe klagten über Ausfälle der Elek­tri­zi­tät, des Internets, der Kommunikationstechnik und über Probleme bei der Buchung geschäftlicher Auslandsreisen.

Sieben Millionen Menschen, meist Frauen und Kinder, sind ins Ausland geflohen, sechs Millionen im Inland vertrieben. Dabei hat die Ukraine nur 44 Millionen Einwohner. Der Staat lässt nicht alle gerne gehen, auch nicht für sichere Arbeit im Ausland, während täglich Soldaten an der Front sterben. In neun von zehn Betrieben hat die Armee Mitarbeiter eingezogen.

Die Eisenbahn funktioniert, Banken arbeiten, zu Onlinegeschäften wird geraten. Beeindruckt zeigte sich Kristalina Georgieva, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), am Dienstag in Kiew: „Die Geschäfte sind geöffnet, Menschen gehen zur Arbeit.“ Behörden und Institutionen arbeiteten „bemerkenswert gut“. Zur Wahrheit gehört, dass das Land von westlicher Hilfe abhängt. Nicht nur bei Panzern, Raketen und der Flugabwehr. 46 Prozent des Staatshaushaltes 2022 haben vor allem die USA und die EU aufgebracht. Für dieses Jahr schätzt der IWF das Defizit auf 40 bis 48 Milliarden Dollar. Weltbank, IWF, die Europäische Investitionsbank und die EBRD stützen das Land mit Kreditzusagen – auch für neue Industrieparks.

Niemand habe sich diesen Krieg gewünscht, sagt Tsivkach, der Chef von Ukraine-Invest. Aber nun „müssen wir die Gelegenheiten nutzen, die sich ergeben“. Der Bedarf sei groß: bei Baustoffen, Nahrungsmitteln, in der IT, Chemie- und Pharmabranche oder im Maschinenbau.

Investoren rät er, nicht lange zu warten. Nach dem Krieg seien die besten Chancen womöglich vergeben. Er habe Anfragen über 2,3 Milliarden Dollar auf dem Tisch. Der Krieg als Katalysator, damit die Ukraine sich löst von ihrer rohstoffgebundenen Wirtschaft. In Worten Tsivkachs: „Wir müssen in die Zukunft schauen und die Ukraine 2.0 erschaffen.“